Ein Tag im Leben von Carolyn Christov-Bakargiev
/ Welt am Sonntag

 

Turin, zehn Uhr morgens, die Sonntagssonne hat sich endlich durch den Nebel gekämpft. Rostrot lässt sie Carolyn Christov-Bakargievs Locken aufleuchten, Ton in Ton mit den Farben der Dächer, die in der Hauptstadt des Piemont irgendwie fester auf den Häusern sitzen als anderswo in Italien. Die Direktorin des Castello di Rivoli, dem wichtigsten zeitgenössischen Kunstmuseum des Landes, steht vor den Toren des Kulturzentrums OGR: einem renovierten Industriegelände, wo früher Eisenbahnen repariert wurden. Um sich schart sie eine illustre Gruppe von Künstlern, Sammlern und Förderern, um sie durch eine Ausstellung mit Werken der Arte Povera zu führen, die aus der Sammlung ihres Hauses stammen. Christov-Bakargiev ist Expertin auf diesem Gebiet – die Verflechtung von Natur und Künstlichkeit, Installationen aus Erde, Feuer und Metall, wie sie erstmals bei den italienischen Künstlern der späten 60er-Jahre auftauchten, ist ihr Lebensthema.

 

Als sie vor zehn Jahren die Documenta 13 leitete, führte sie das Wort „Anthropozän“, also das vom Menschen geprägte Erdzeitalter, in die Kunst ein, wo es seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Damals flog ihr ihre Forderung nach dem Wahlrecht für Bienen und Erdbeeren fast um die Ohren – aus heutiger Sicht war sie visionär. „CCB“, wie Christov-Bakargiev auch genannt wird, wuchs in Washington DC auf. Ihr Vater, ein Arzt, war Bulgare, ihre Mutter war italienische Archäologin. Und wie sie da nun in der alten Eisenbahnhalle steht, im weißen Prada-Mantel mit opulent applizierten Stoffblumen („ein Geschenk von Miuccia Prada, ich selbst kaufe mir sowas nie!“) und ihr Publikum mit Erklärungen über Iglus aus Glasscheiben, Kartoffelhaufen und in Holzbalken geschnitzte Baumstämme in den Bann zieht, spürt man die unglaubliche Energie dieser Frau, mit der wir, würde man sie anzapfen, sofort auf Putins Gas verzichten könnten. Typische Tage gibt es für CCB nicht. Über Kunst zu reden, mit dieser Stimme, die ein bisschen heiser ist und der man gerne zuhört, weil in ihrer Entschiedenheit immer auch Witz mitschwingt, gehört zu ihrem Metier – und man merkt schnell, sie kann gar nicht ohne. Diese Frau ist so unverstellt und eins mit sich, dass alle an ihren Lippen hängen.

 

„Der Begriff Arte Povera stammt von dem Kurator Germano Celant, der an Covid gestorben ist. Er war noch ein junger Mann, erst 79, denn wir sind hier nicht weit von Nervi, wo die Menschen sehr alt werden.“ Germano habe den Begriff vom „Armen Theater“ von Jerzy Grotowski übernommen, das gegen das Fernsehen anging – „er nahm das Licht und die Kostüme weg, und die dämlichen Mobiltelefone, die es damals noch nicht gab“, sagt CCB und wühlt in ihrer klingelnden Handtasche, bis sie aufgibt und dudelnd zum nächsten Kunstwerk stapft, einem Metallrahmen mit kleinen Schaukeln, auf denen es brennt, von Jannis Kounellis. „Die Europäer dachten anders als die Künstler in Amerika, wo damals Pop und Minimal Art entstanden, nach dem Motto ‚a box is a box is a box‘. Die Künstler hier fragten dagegen: Woraus besteht die Box? Welche Größe hat sie? Wozu ist sie da?“ Wann immer CCB über Kunst spricht, verknüpft sie Poesie, Archäologie und Naturkunde, springt von Quantenphysik zu Etymologie und wirkt dabei wie eine Enzyklopädie auf zwei Beinen, die ihr Wissen mit funkelnden Augen in die Menge schießt.

 

Auch der Turiner Bürgermeister wird nicht geschont. Nach 45 Minuten Shuttlefahrt stehen wir in der elegant umgebauten Schlossruine des Castello di Rivoli, wo heute die Ausstellung „Espressioni con Frazioni“ eröffnet. Die Direktorin schleust den Politiker die Stahltreppen auf und ab und landet vor einer Reihe explizit pornographischer Collagen der Künstlerin und Musikerin Cosey Fanni Tutti, der sie einen kleinen Müllhaufen von Jimmie Durham gegenübergestellt hat. Das Selfie macht der Bürgermeister dann lieber vor einem Gemälde, das die Turiner High Society im Covid-Trauma zeigt. CCB schlägt eine Schneise durch das Publikum und lotst ihn in einen langen Saal, die „Manica Lunga“. Er ist das Zentrum der Schau – und die Direktorin hat hier einen Coup gelandet. Mitten im Raum steht eine Art Käfig aus Chrom, in dem eine virtuelle Figur mit Helm durch eine kaputte Landschaft marschiert. Die Animation stammt von dem Digitaldesigner Beeple alias Michael Winkelmann aus Wisconsin – der Mann, der den Startschuss für den NFT-Hype abfeuerte: Letztes Jahr versteigerte Christie’s seine seit 15 Jahren täglich angelegten Scifi-Pop-Bildchen „Everydays“ für 69 Millionen Euro, und prompt war Beeple, der sich mit Kunst so überhaupt nicht auskennt, einer der drei teuersten lebenden Künstler der Welt. Nun hat er es mit „Human One“ ins Museum geschafft. Der Käufer Ryan Zurrer, der die Arbeit im November für 29 Millionen ersteigert hat, steht daneben – ein rotbärtiger Mittdreißiger im engen, lila bedruckten Jackett, und sagt, wieviel Verantwortung es sei, mit dieser wichtigen Arbeit zu leben, während neben ihm CCB dem Bürgermeister erklärt, dass dies das erste Werk sei, das der Künstler stetig verändere: „Jetzt sehen wir darin die ukrainische Flagge, aber das wird nicht immer so sein.“ Beeple steht daneben und sieht ein bisschen aus wie George McFly aus „Zurück in die Zukunft“, mit schiefem Lächeln, Fifties-Brille und Bomberjacke, und dass CCB eine Porträtstudie von Francis Bacon mit seinem Käfig kombiniert hat, nimmt er mit fröhlichem Schulterzucken hin. Es folgt ein Fotoshooting, dann geht es in den Gartenpavillon, wo CCB die Ausstellung offiziell mit einer kurzen Rede eröffnet, die sie mit den Worten „klappklappklapp!“ abschließt – Applaus brandet auf, das Publikum aus Freunden und Förderern des Museums, prominenten Künstlern wie Enrico David, Julie Mehretu und Susan Philipsz sowie einer bewusst kreativ gekleideten Beeple-Entourage hält die Gesichter in die Sonne und Prosecco in der Hand. Doch CCB drängt zur nächsten Station: Die Sammlung Cerruti in einer alten Villa zehn Gehminuten über den grünen Hügeln. Seit 2017 gehört sie zum Castello di Rivoli und beherbergt wertvolle Bücher, Porzellan, Möbel und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Avantgarde. Im Schlafzimmer von Cerrutis Mutter, zwischen reich ornamentierten Stoffen, ist ein Video des Künstlers Ed Atkins zu sehen, das auf einem Telefonat mit dessen Mutter während des Lockdowns basiert – Atkins erscheint als digitaler Avatar im Anzug, der ihren traurigen Gedanken lauscht. Da ist sie wieder, diese Brücke zwischen Natur und Künstlichkeit, während CCB die Gruppe durch die engen Zimmer schiebt, weil sie gleich mit ihren Künstlertalks loslegen muss.

 

Also wieder hinab zum Castello, wo die Direktorin alle zwei Schritte stehenbleibt und irgendetwas richtet oder nach dem Handy greift, um ihre Leute zu instruieren: Die Lautstärke einer Soundinstallation, der Wandtext für ein Lichtkunstwerk, ein Tisch vor dem Podium. CCB ist hands-on und hellwach. Ein Talk zwischen einer Kuratorin und Silvia Calderoni, die Gucci-Model, Schauspielerin und Künstlerin ist und mit ihrer Partnerin Ilenia Caleo auftritt, läuft bereits etwas zu lang, so dass CCB einfach aufs Podium steigt und anfängt, geräuschvoll Technik und Stühle herumzuschieben. Zwei Minuten später gehört ihr die Bühne, und sie sitzt der New Yorker Malerin Julie Mehretu gegenüber, die auf jede Frage so smart und lässig und im Turbotempo antwortet, dass selbst CCB Mühe hat, hinterherzukommen. Und dann, das Highlight des Tages: Beeple. Der Saal platzt aus allen Nähten, als die beiden, die seit Monaten regelmäßig Zoom-Talks machen, die sie dann bei Youtube einstellen, ein Gespräch beginnen, das ein bisschen wirkt wie Paartherapie. CCB bringt die erste Frage vor: „Wie sieht in der digitalen Welt das Verhältnis zwischen Sammler und Künstler aus?“ Beeple holt aus, das sei nicht anders als bei traditioneller Kunst, aber in Zukunft werde es wohl mehr dynamische Werke geben, die sich stetig verändern. CCB unterbricht: „Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.“ Beeple lacht: „Oh sorry, warum beantwortest Du sie nicht selbst?“ Ein verbaler Ringkampf entsteht, bei dem Beeple erklären muss, was er mit traditioneller und mit digitaler Kunst meint: „Digitale Kunst entsteht am Computer.“ – „Dann ist Ed Atkins ein digitaler Künstler?“ – „Ich weiß nicht, wer das ist.“ CCB bleibt geduldig. Am Ende will das Publikum wissen, wie er die Zukunft sieht. „Nicht furchtbar, aber fucking bizarre.“ Bizarr finden auch die meisten Künstler hier das Interesse ihrer geliebten Kuratorin an Beeple, die ihn als eine Art neuen Warhol preist, „weil Warhol sich mit Kunst auch nicht auskannte“. Und sie lässt sich nicht beirren. Abends steht sie in Turin auf einer Dachterrasse, die Zurrers Crypto-Blockchain-token-Firma Dialectic AG extra gemietet hat. Irgendwann kommt tatsächlich Stimmung auf und es wird getanzt, wenn auch „traditionelle“ Künstler und NFT-Crowd nicht recht zueinander finden. Carolyn Christov-Bakargiev ist das egal. Wenn Ende Mai Werner Herzog zu Besuch kommt, muss der da auch durch. Und am Ende hat sie womöglich wieder mal recht.